Hans Joachim Tiedge
Hansjoachim TiedgeDer Überläuferaus der Gaststätte
Als Regierungsdirektor in der Bundesrepublik Deutschland fungierte Hansjoachim Tiedge und galt als eine der Schlüsselfiguren im Verfassungsschutz, wo er die westdeutschen Spionageaktivitäten in der DDR leitete. Diese Position behielt er inne, bis er sich schließlich dorthin abwandte und um Asyl in der DDR bat.
Am 23. August 1985 verkündete die Aktuelle Kamera die Nachricht: „...der seit langem im Bundesverfassungsschutz der BRD für die Spionageabwehr zuständige Hansjoachim Tiedge ist in die DDR übergetreten und hat um Asyl gebeten. Die DDR-Behörden prüfen den Antrag.' Zuvor war Hansjoachim Tiedge in der Bundesrepublik mit der Entlarvung von DDR-Spionen beauftragt und leitete über 800 geheime Operationen zu diesem Zweck. Sein Seitenwechsel in die DDR stellte für die Bundesrepublik eine empfindliche Niederlage dar. Staatssekretär im Innenministerium Hans Neusel äußerte diesbezüglich: „Wir müssen davon ausgehen, dass die Kenntnisse, die er besitzt, womöglich vollständig den gegnerischen Nachrichtendiensten zur Verfügung gestellt werden. Das bedeutet, dass wir die bereits bei seinem Verschwinden eingeleiteten schadensbegrenzenden Maßnahmen intensivieren müssen.'
Die DDR-Führung ist außer sich vor Freude
Stasi-Chef Erich Mielke informierte einen sowjetischen Kollegen, dass „eine von langer Hand im Bundesamt für Verfassungsschutz geführte operative Aktion des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR erfolgreich abgeschlossen wurde.' Markus Wolf, der Leiter des DDR-Auslandsnachrichtendienstes, erhoffte sich derweil neue Einblicke in die Funktionsweise des westdeutschen Verfassungsschutzes.
"Zwei Gesichtspunkte waren ausschlaggebend: Einerseits sein Wissen über Doppelagenten und unsere Agenten, die im Westen bereits enttarnt oder verdächtigt waren, und andererseits eine vollständige Darstellung der Arbeitsmethoden des Bundesamtes für Verfassungsschutz."
Markus Wolf, Leiter des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, nach dem Überlaufen von Hansjoachim Tiedge
Selbstmord oder Verrat?
Nach dem Seitenwechsel von Hansjoachim Tiedge verschlechterte sich das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR, obwohl zuvor eine Politik der Entspannung verfolgt wurde.
Ungeachtet der öffentlichen Erklärungen von Politikern nach Hansjoachim Tiedges Übertritt in die DDR lassen sich hinter seiner Flucht ausschließlich persönliche Motive erkennen. Sein Leben in der Bonner Republik geriet aus den Fugen: Nach dem Tod seiner Frau begann er, übermäßig zu trinken und verspielte erhebliche Geldbeträge. Seine Kinder wurden von der Haushälterin betreut. Schließlich bemerkten auch seine Vorgesetzten beim Bundesamt für Verfassungsschutz, dass etwas nicht stimmte. Hansjoachim Tiedge wurde zu disziplinarischen Gesprächen vorgeladen, und seine Vorgesetzten drohten mit einer Versetzung in eine nachgeordnete Dienststelle. Als er die Vorladung zur Sicherheitsüberprüfung ignorierte, war es zu spät. Seine Chefs sahen keine Möglichkeit mehr, ihn zu schützen. Daher sah er sich, wie er in seinen Memoiren festhält, mit zwei Optionen konfrontiert: Selbstmord oder Verrat. Er entschied sich für Letzteres.
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