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Therapeutische Ansätze bei atypischer Depression

Depressive Störungen identifizieren - und mit innovativen Behandlungsstrategien angehen

Dass depressive Erkrankungen häufig unerkannt bleiben und/oder unzureichend therapiert werden, stellt eine beklagenswerte Gegebenheit dar. Laut Erhebungen aus den Vereinigten Staaten nimmt ein Drittel der von Depression betroffenen Personen keinerlei ärztliche Unterstützung in Anspruch. Summa summarum werden lediglich die Hälfte der depressiven Erkrankungen diagnostiziert; von diesen wiederum wird nur die Hälfte medikamentös mit Antidepressiva versorgt, wobei davon weniger als fünfzig Prozent diese Arzneimittel in adäquater Dosis und über den erforderlichen Zeitraum erhalten. Demzufolge ist davon auszugehen, dass lediglich etwa zehn Prozent der betroffenen Individuen eine sachgerechte Behandlung erfahren. Diese Erkenntnis befindet sich in einem erheblichen Widerspruch zu der Tatsache, dass depressive Erkrankungen heutzutage in der Mehrheit der Fälle wirkungsvoll therapiert werden können.

 

Ohne gesicherte Diagnose bleibt eine wirksame Therapie verwehrt

Das breite Spektrum depressiver Störungen und ihre Manifestationen

Die international anerkannten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV kennzeichnen diverse depressive Krankheitsbilder. Das ICD-10 unterteilt beispielsweise in die milde, die moderate sowie die schwere depressive Episode (wobei Letztere sowohl mit als auch ohne psychotische Merkmale auftreten kann), ferner die Dysthymie, die rezidivierenden kurzdauernden Depressionen und die saisonal abhängige Depression. Die sogenannte «atypische Depression» ist im ICD-10 unter der Kategorie der «sonstigen depressiven Episoden» (F32.8) subsumiert.

 

Im Kontext von depressiven Episoden manifestieren sich typischerweise eine gedrückte Gemütslage sowie eine spürbare Abnahme von Tatendrang und allgemeiner Aktivität. Das Vermögen, Freude zu erleben, ebenso wie das Interesse und die Konzentrationsfähigkeit, erfahren eine merkliche Beeinträchtigung. Eine erhebliche Erschöpfung kann sich bereits nach geringsten körperlichen oder geistigen Bemühungen einstellen. In den meisten Fällen ist die Schlafqualität beeinträchtigt und der Appetit verringert sich. Sowohl das Selbstwertgefühl als auch das Selbstvertrauen zeigen sich deutlich geschwächt. Oftmals treten Schuldgefühle oder Gedanken an die eigene Unzulänglichkeit auf.

 

Unter den sogenannten körperlichen Symptomen finden sich Desinteresse, Anhedonie (Verlust der Freude), vorzeitiges Erwachen, eine ausgeprägte morgendliche Stimmungstief, psychomotorische Verlangsamung oder Unruhe, sowie eine Minderung des Appetits, Gewichts- und Libidoverlust. Die Quantität und die Intensität dieser Anzeichen sind ausschlaggebend dafür, ob eine milde, eine moderate oder eine schwere depressive Episode diagnostiziert wird. Ein gravierendes Anliegen ist die Suizidalität; so beenden etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent der depressiv erkrankten Personen ihr Leben selbst. Patienten, die bereits einen Suizidversuch hinter sich haben, sind einem signifikant erhöhten Risiko ausgesetzt.

 

Im Rahmen einer Depression, die von psychotischen Symptomen begleitet wird, können Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen, eine psychomotorische Verlangsamung oder auch ein signifikanter Stupor in Erscheinung treten. Dabei besteht die Möglichkeit, dass Halluzinationen und Wahnvorstellungen stimmungskongruent sind, dies ist jedoch nicht zwingend der Fall.

 

Die atypische Depression kennzeichnet sich durch eine affektive Reagibilität, was die Aufhellbarkeit der Stimmung bei positiven Ereignissen bedeutet. Hinzu kommen ein erhöhter Appetit, der oftmals mit einer signifikanten Gewichtszunahme einhergeht, ein übermässiges Schlafbedürfnis (Hypersomnie), ein Gefühl von bleierner Schwere in den Gliedmassen sowie eine schon lange andauernde - und nicht nur auf affektive Episoden beschränkte - Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisungen, welche soziale oder berufliche Einbussen nach sich zieht.

 

Bei der Dysthymie handelt es sich um eine langwierige, über mehrere Jahre persistierende Niedergeschlagenheit, welche jedoch weder von ausreichender Schwere noch von hinreichender Dauer ist, um die spezifischen Kriterien einer rezidivierenden depressiven Störung zu erfüllen.

 

Als rezidivierende kurzdauernde Depressionen (Recurrent brief depressions) werden depressive Phasen bezeichnet, die zwar den Diagnosekriterien einer depressiven Episode genügen, aber nur etwa einmal im Monat auftreten und lediglich zwei bis drei Tage andauern, ohne dabei in einem direkten Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus zu stehen.

 

Die saisonal abhängige Depression (SAD), auch als saisonale Depression bekannt, zeigt sich üblicherweise während der Wintermonate (mindestens über zwei konsekutive Monate hinweg), wenngleich sie vereinzelt auch in den Sommermonaten festgestellt werden kann. Charakteristische Merkmale umfassen eine reduzierte Energie, ausgeprägte Erschöpfung, eine herabgesetzte Leistungsfähigkeit im Arbeitsumfeld, eingeschränkte Schöpferkraft oder ein verringertes soziales Interesse, sowie eine Steigerung des Appetits (oft mit Heisshunger auf Kohlenhydrate), eine Zunahme des Körpergewichts und ein erhöhtes Schlafbedürfnis. Die Häufigkeit ihres Auftretens korreliert mit dem jeweiligen geographischen Breitengrad. Ein höherer Breitengrad begünstigt eine häufigere Manifestation dieser Störung. Es wird zudem von weiteren begünstigenden Faktoren ausgegangen.

 

 Therapieansätze unter Verwendung von Antidepressiva

Aktuell zählen Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRIs), zu denen beispielsweise Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertalin gehören, sowie modernere Wirkstoffe wie Mirtazapin, Venlafaxin und Reboxetin, zu den präferierten Medikamenten für die pharmakologische Therapie sämtlicher Ausprägungen von Depressionen. Diese Präparate weisen im Vergleich zu traditionellen Substanzen (beispielsweise trizyklische Antidepressiva) deutlich geringere unerwünschte Effekte auf und bergen zudem ein minimales Vergiftungsrisiko (Suizidgefahr!).

 

Im Fall der atypischen Depression werden Moclobemid und SSRI als Behandlungsoptionen angeraten, wobei Moclobemid potenziell den SSRI überlegen sein könnte. Reboxetin besitzt als einziger antidepressiver Wirkstoff die spezifische Zulassung für die Behandlung der Dysthymie.

 

Für die Therapie der saisonalen Depression können sowohl SSRIs als auch die Lichttherapie (oder eine Kombination beider) zur Anwendung kommen. Der antidepressive Wirkmechanismus der Lichttherapie wird über die Augen aktiviert. Von essenzieller Bedeutung ist die Einsicht, dass bereits ein wenigstens einstündiger Aufenthalt im Freien bei Tageslicht die Intensität saisonal abhängiger depressiver Beschwerden mindern kann. Sollte ein ausbleibendes oder lediglich teilweises Ansprechen auf die Lichttherapie zu verzeichnen sein, ist der Einsatz einer ergänzenden antidepressiven Medikation unabdingbar.

 

Die unterschiedlichen Phasen der Therapie

Im Kontext der Depressionsbehandlung lassen sich primär drei Hauptabschnitte der Therapie kategorisieren: die Akutphase, die Erhaltungsphase und die Rezidivprophylaxe. Das primäre Anliegen der therapeutischen Massnahmen ist die Remission, was die gänzliche Rückbildung sämtlicher Symptome sowie die Wiederherstellung des ursprünglichen Leistungsniveaus der betroffenen Person impliziert.

 

Die anfängliche Verbesserung des Zustands im Rahmen der Akuttherapie wird als «Response» definiert. Sollte diese Reaktion ausbleiben oder verharren, ist es von entscheidender Bedeutung, die Dosis des Antidepressivums anzuheben. Eine inadäquate Dosis stellt den primären Grund für eine ausbleibende oder stockende therapeutische Antwort dar. Sollte die angestrebte Besserung binnen eines Zeitraums von drei bis vier Wochen ausbleiben, selbst nach Dosissteigerung bis zur im Arzneimittelkompendium angegebenen Höchstdosis, ist ein Wechsel des Medikaments ratsam. Selbstverständlich muss dabei die Adhärenz des Patienten sichergestellt werden. In vielen Fällen können Messungen des Plasmaspiegels zur Aufklärung der Situation beitragen.

 

Die entscheidendsten Vorgehensweisen bei ungenügendem Ansprechen auf eine sachgerechte Therapie sind:

  • Kombinationstherapie
  • Augmentationsstrategien
  • Spezifische psychotherapeutische Ansätze
  • Elektrokrampftherapie (EKT) sowie weitere Methoden

Der Einsatz von Kombinationstherapien mit verschiedenen Antidepressiva sollte, wo immer praktikabel, unterlassen werden, kann jedoch in bestimmten Fällen durchaus zweckdienlich sein. Als pharmakologisch effektive Kombinationen gelten unter anderem SSRI in Verbindung mit Reboxetin, Mirtazapin mit SSRI, Mirtazapin kombiniert mit Venlafaxin sowie Mirtazapin zusammen mit Reboxetin.

 

Die Augmentierung beschreibt das Hinzufügen eines weiteren Wirkstoffs zu einem bereits adäquat dosierten, jedoch nicht hinreichend wirksamen Antidepressivum; dieser Zusatzwirkstoff ist für sich genommen nicht stimmungsaufhellend, verstärkt aber die Effektivität des primären Antidepressivums. Geeignete Substanzen für eine solche Augmentationsstrategie umfassen Lithium, atypische Antipsychotika, Stimulanzien sowie Schilddrüsenhormone (T3, T4).

 

Die Zeitspanne der Therapie

Sobald eine vollständige Remission erzielt wurde, sollte die effektive Dosierung über einen Zeitraum von mindestens sechs bis zwölf Monaten aufrechterhalten werden (Erhaltungstherapie). Sollte es nicht zu einer vollständigen Restitutio ad integrum (Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes) kommen, wird die Fortführung einer Langzeittherapie in Betracht gezogen.

 

Präventionsmassnahmen

Für die Prävention einer wiederkehrenden depressiven Erkrankung werden neben den herkömmlichen Antidepressiva oft auch Lithium, Carbamazepin oder Valproinsäure zum Einsatz gebracht. Diese genannten Substanzen weisen überdies ausgeprägte suizidpräventive Effekte auf, wodurch ihr Einsatz bereits in der Akuttherapie von erheblichem Nutzen sein kann. Eine kombinierte Verabreichung von Lithium und Carbamazepin respektive Valproinsäure kann sich als äusserst effektiv erweisen, insbesondere bei einem nur partiellen Ansprechen auf die alleinige Lithiumtherapie.

 

Die Bedeutung der Psychotherapie

Die spezifische Ausrichtung der Psychotherapie orientiert sich massgeblich am jeweiligen Stadium der Erkrankung. Im Verlauf der akuten Krankheitsphase erweist sich eine unterstützende Psychotherapie als angezeigt, welche gleichzeitig zur Etablierung einer tragfähigen therapeutischen Allianz beiträgt. Für die Stabilisierungsphase finden vorrangig strukturierende sowie auf die Krankheitsbewältigung ausgerichtete Massnahmen Anwendung. Als hochwirksam werden hierbei insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie sowie die interpersonelle Psychotherapie eingestuft. Die verschiedenen Therapieformen können an dieser Stelle nicht detailliert erläutert werden. Die synergistische Kombination von Psychotherapie und Antidepressiva wird allgemein als die effektivste Behandlungsstrategie bei Depressionen angesehen.

 

Zusätzliche Therapieansätze

Erörterung der Elektrokrampftherapie (EKT)

Im Rahmen der EKT wird mittels elektrischer Stimulation ein umfassender Krampfanfall bewusst induziert. Die genaue Wirkweise, die ihren antidepressiven Effekt bedingt, ist bis heute nicht umfassend erforscht. Sie bewirkt Modifikationen der zerebralen Perfusion und des Hirnstoffwechsels, führt zu neurochemischen Anpassungen (darunter Veränderungen von Cortisol, TSH, Prolactin) und moduliert ferner das dopaminerge, serotonerge sowie das noradrenerge System. Die American Psychiatric Association (APA) betrachtet die EKT als die wirksamste Therapieform bei depressiven Erkrankungen. Ihre überlegene Wirksamkeit lässt sich mutmasslich durch ihre mannigfaltige Wirkung auf diverse Neurotransmittersysteme erklären.

 

Erläuterungen zur Transkraniellen Magnetstimulation (TMS)

Die Methode der TMS fusst auf dem fundamentalen Prinzip der elektromagnetischen Induktion. Obwohl ihr therapeutischer Vorteil aktuell noch nicht umfassend dokumentiert ist, wird die TMS dennoch als wertvolle Ergänzung des Behandlungsspektrums bei Depressionen betrachtet.

 

Aspekte der Vagus-Nerv-Stimulation (VNS)

Die Vagus-Nerv-Stimulation (VNS), die bislang erfolgreich in der Epilepsiebehandlung eingesetzt wurde, zeigt ebenfalls antidepressive Effekte, verweilt jedoch momentan noch im experimentellen Stadium.

 

Abschliessende Überlegungen

Depressive Erkrankungen bleiben häufig unerkannt und erfahren lediglich in ungefähr zehn Prozent der Fälle eine sachgerechte Behandlung. Diese Gegebenheit bedingt vermeidbares menschliches Elend und erhebliche sozioökonomische Belastungen für die Gesellschaft. Global betrachtet stellt die Depression die primäre Ursache für Erwerbsunfähigkeit dar. In Anbetracht der kontinuierlich zunehmenden Aufwendungen im Schweizer Gesundheitswesen wäre es von höchster Relevanz, depressive Störungen zeitnah zu diagnostizieren und wirksam zu therapieren. Die erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Instrumente, wie innovative Antidepressiva und effektive psychotherapeutische Verfahren, stehen bereits zur Verfügung. Es obliegt uns lediglich, diese Potenziale vollumfänglich einzusetzen!

 

 

Dr. med. Paul Höck, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Zug